Haiku

Die Haiku (俳句, wörtlich: "lustiger Vers") sind - wie ihre "Ahnen" die Tanka, die seit dem 8. Jahrhundert von Adligen und Beamten des Herrscherhofes praktiziert wurden - japanische Kurzgedichte deren Blütezeit im 17. Jahrhundert liegt.

Ausgehend von einer Naturbetrachtung wollen die Haiku den Leser dazu anregen, über die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Seins nachzudenken. Wie ein Schnappschuss wird eine Stimmung vom Dichter eingefangen und auf kleinstem Raum mit minimalen sprachlichen Mitteln wiedergegeben. Oft soll der Leser bei der Betrachtung des einzelnen Gedichtes "dahinter schauen" und quasi aus dem Kleinen heraus auf das ganze Universum und seinen eigenen Platz darin blicken können. Manchmal aber gibt ein Haiku auch bloß die augenblickliche Gemütslage des Dichters wieder. So schrieb schon Vincent van Gogh in einem Brief an seinen Bruder Theo: "Wenn man sich mit der japanischen Kunst befasst, dann sieht man, womit ein unbestreitbar weiser und philosophischer und kluger Mann seine Zeit verbringt. Die Entfernung des Mondes von der Erde zu studieren ? Nein. Die Politik Bismarcks zu studieren? Nein. Er studiert einen einzigen Grashalm."

Das Haiku entwickelte sich aus der Renga-Dichtung und zwar zuerst aus einem ganz bestimmten Genre der Renga aus der Haikai, einer Scherz-Renga, in der humorvolle Formulierungen den Text dominierten. Die Anfangsstrophe einer Renga heißt Hokku und sehr bald hatten japanische Dichter diesen Anfangsvers der Scherz-Renga oder japanisch Haikai no hokku isoliert und als eigenständiges Gedicht bekannt gemacht. Es entstand also das Haiku.

Haiku sind immer Dreizeiler mit 17 Silben: Klassisch ist die Silbenfolge 5-7-5, entstanden aus der ersten "Oberstrophe" der Tanka. Die japanische Sprache ist jedoch sehr viel komprimierter als die deutsche. Die richtige Silbenanzahl kann bei der Übersetzung von Haiku ins Deutsche deshalb nicht immer eingehalten werden.
Eine generelle Regel besagt, dass in einem Haiku immer ein kigo - ein Wort, das auf eine Jahrezeit hinweist - sein soll. Das Neujahr, der Große Morgen, ist in Japan übrigens eine eigene, fünfte Jahreszeit. Die Natur im Allgemeinen und die Jahreszeiten im Speziellen spielen immer eine besondere Rolle in der japanischen Poesie. Gute japanische Haiku-Dichter stimmen die Tonhöhen der verschiedenen Vokale in einer Zeile so aufeinander ab, dass ein musikalisches Muster entsteht, welches über den Klang auf den Hörer noch einmal besonders einwirkt.

Obwohl es heute auch viele nicht-japanische Haikus gibt, sind sie vor allem durch drei klassische Meister bekannt geworden: Bashô (1644-1694), Buson (1716-1783) und Issa (1763-1827).

Bashô

Bashô (Portait von Y. Buson)

1643 bis 1694 lebte Matsuo Bashô, der Großmeister des Haiku. Er dichtete Verse, welche auch als Grundlagen zur Meditation dienen können und hatte enormen Einfluss auf das Zen, dem er auch viele Einsichten verdankte. Die Grundsätze seiner Schule waren "Wechsel und Beständigkeit". Sein vielleicht bekanntestes Gedicht, benannt "Gestörte Stille", lautet: 

Furu ike yaDer alte Teich.
Kawazu tobikomuEin Frosch springt hinein -
Mizu no otodas Geräusch des Wassers

Furu ike ya - alter Teich!

Der "alte" Teich war schon "immer" da: er ist wie der zeitlose Ursprung aller Dinge. Seine Oberfläche spiegelt den Himmel und alle Dinge und verbirgt zugleich seine Tiefe. Aber die reale "Tiefe" dieses Teiches ist unerheblich. In tiefer Stille und Sammlung liegt er da und spiegelt alles, ohne sich selbst zu verändern. Das ya am Ende der Zeile ist ein Schneidewort, eine Zäsur im Haiku. Die beiden nächsten Zeilen sind nicht durch eine Zäsur gebrochen, sie gehen ohne Trennung ineinander über: Kawazu tobikomu / Mizu no oto.

Kawazu tobikomu - Ein Frosch springt hinein !

Frosch

Unverschämt und ohne jeden Respekt durchbricht der Frosch die Stille und Sammlung. Er springt ins Wasser, und der Ton, der jetzt entsteht, zerbricht die Stille. Der Frosch als komische Gestalt bildet einen Kontrapunkt zur ehrwürdigen Stille des Ortes. Er zerstört aber dieses Ehrwürdige nicht, sondern überhöht es in einem komischen Kontrapunkt.

Eine andere Lesung für das Schriftzeichen Kawazu - Frosch - ist Kaeru, lautgleich mit "zurückkehren". Kehrt der Frosch etwa mit einem Sprung zurück in den Ursprung ? Schon von seiner grünen Farbe gehört er in das Grün der ganzen Szene. Wenn er in den alten Teich springt, kehrt er dorthin zurück, wo er hingehört.

Aber wohin springt der Frosch überhaupt ? Nach der kausalen Ordnung der Dinge springt er ins Wasser und dadurch entsteht ein Ton ! So lautet aber der Text des Gedichtes nicht !

Mizu no oto

Hier handelt es sich um eine Form, die im Japanischen anders zu lesen ist, als in westlichen Sprachen. Die Formel spricht nicht von mizu - Wasser, obwohl es am Anfang der Zeile steht, sondern von oto, dem Ton, hier vom Ton des Wassers. Der Frosch springt in mizu no oto, in - diesen Ton ! Man sieht nicht erst den Frosch, wie er am Teichrand sitzt und dann in zeitlicher Abfolge in das Wasser springt, das jetzt als Folge einen Ton erzeugt. Erst, wenn der Ton erklingt, bemerkt man, dass da ein Frosch gewesen sein muss, ja, dass da ein Teich ist !

Die gesamte Szene konzentriert sich in diesem einen Ton, sie wäre ohne ihn niemals bewusst geworden. Der Ton des Wassers hebt jede Trennung von Subjekt und Objekt auf. Er ist wie ein plötzliches, blitzartiges Wachwerden, wie ein Satori (= der japanische Ausdruck für einen Einblick in den Zustand des Erwachtseins: die plötzliche Erkenntnis, dass ich bereits das bin, wonach ich suche.) !

Die Wahrnehmung von Farbe, die zuerst ein "Sehen" ist, hat sich zu einem Hören verändert. Damit hat die Qualität der Wahrnehmung eine völlig andere Struktur gewonnen.
Sehen greift. Gesehenes wird vereinzelt, "begriffen" und festgehalten. Das Sehen ist als Sinn viel stärker als das Hören. Es schiebt sich vor das Hören und deckt das Hören teilweise zu. Darum ist bei den meisten Menschen das Fernsehgerät viel zu laut eingestellt: das Sehen verbraucht die meiste Aufmerksamkeit. Tritt das festhaltende Sehen zurück, werden die anderen Sinne viel stärker.

Der Mensch mit all seiner Geschäftigkeit, die durch die rasende Evolution und den Einfluss der alles und jeden beherrschenden Medien noch intensiviert wird, bringt trotzdem nur eine kurze Unterbrechung (= Ton) in die Ruhe der ewigen Zeitlosigkeit (= des Weihers) und bleibt doch meist ohne nachhaltigen Eindruck. Die Wellen, die man Zeit seines Lebens oft mit allergrößter Mühe geschlagen hat, ebben fast immer irgendwann ab und enden in der ruhenden Oberfläche der Ewigkeit.

Andere Haikus die mir gefallen:

Der alte Teich!
Bashô springt hinein,
Ton des Wassers!
(Parodie Bashô's Haiku von Meister Sengai)

Hielte ich ihn fest,
bliebe nichts in meiner  Hand -
zarter Schmetterling!
(Buson)

Kaum war er erblüht,
hat den Mohn der Wind verweht,
noch am gleichen Tag !
(Issa)

Yesterday it worked
Today it is not working
Windows is like that
(Unbekannt)

A crash reduces
your expensive computer
to a simple stone.
(Unbekannt)